Kursthemen der 60er Jahre

Das Institut wird in einer Gesellschaft gegründet, in der die sexuelle Liberalisierung der ersten Jahrhunderthälfte ab Mitte der fünfziger Jahre eine auffallend konservative Wende erfahren hatte. So vertraten Anfang der 60er Jahre Frauenzeitschriften, Tages- und Wochenzeitschriften - der Analyse der Historikerin Dagmar Herzog (2005) zufolge - weit konservativere Einstellungen hinsichtlich Geschlechterrollen und Sexualität als die Presseerzeugnisse Ende der 40er Jahre.

Dabei kam - nach der Wahl des Christdemokraten Konrad Adenauers zum 1. Bundeskanzlers (1949) und des Katholiken J. Wuermelings zum Familienminister (1953) - den christlichen Kirchen in Westdeutschland (im Gegensatz zur sowjetischen Besatzungszone) eine besondere Bedeutung zu. Sie führten intensive Debatten über Sitte und Anstand und suchten normative Überzeugungen über Sexualität, Geschlechterrollen und Familienrecht konservativ zu beeinflussen – auch im Bemühen, das Ausmaß der Anpassung und Unterstützung des Nationalsozialismus seitens der christlichen Kirchen zu kaschieren. So wurde z.B. vor jeder Veränderung des § 218 gewarnt, Abtreibung und Verhütungsmittel galten bei vielen als verwerflich, der § 175 wurde je nach Bundesland und Richter willkürlich angewandt, die „Reinheit“ oder „Heiligkeit“ der Ehe wurde hervorgehoben, Katholiken wie Protestanten diagnostizierten „sexuelle Anomie“ und behaupteten das Christentum sei lustfreundlich, „Sexualität in einer christlichen Ehe sogar lustvoller als die weltliche Lasterhaftigkeit“ (ebenda, S. 95ff).

Gleichzeitig befand sich die alte Bundesrepublik Deutschland in den 60er Jahren im zweiten Jahrzehnt des „Wirtschaftswunders“. In diesen Zeiten der Prosperität und der Expansion des Arbeitsmarktes wurden dringend neue Arbeitskräfte gebraucht. Die Öffnung der BRD-Gesellschaft zur Aufnahme von neuen „Gastarbeitern“ sowie die Mobilisierung der stillen Arbeitsmarktreserve in Form von weiblichen Arbeitskräften waren unumgänglich geworden.
Diese gesellschaftliche Entwicklung spiegelte sich auch in der Gesetzgebung wider: Die sukzessive Emanzipation der Frauen aus den patriarchalen Strukturen der Hausfrauenehe zeigte sich im normativen Bereich in ersten Ansätzen bereits Ende der 50iger Jahre unter anderem in dem Gesetz über die „Gleichberechtigung von Mann und Frau“ auf dem Gebiete des Bürgerlichen Rechts und den Entscheidungen des BVerfG hierzu von 1959. In Verbindung mit dem Gesetz zur Vereinheitlichung und Änderung familienrechtlicher Vorschriften vom 01.01.1962 (FamRÄndG) wurden nunmehr auch in Erziehungsfragen grundsätzlich beide Eltern gleichgestellt und die subsidiäre Stellung der Mutter bei der Aufteilung der elterlichen Gewalt beseitigt. Das alleinige gesetzliche Vertretungsrecht des Vaters bezüglich der Kinder und die Bevormundung der Ehefrauen durch den Haushaltsvorstand werden bis Ende der 60iger Jahre ebenso schrittweise abgeschafft wie die bisherige Unterschriftserfordernis des Ehemannes beim Abschluss eines Arbeitsvertrages seiner Ehefrau.

(Aus: Fernkorn, E., Haid-Loh, A., Hufendiek, S., Meyer, A., Merbach, M und Volger, I. (EZI Berlin), Bewahren und Verändern – 1964 bis 2025.Die Entwicklung der Fort- und Weiterbildung des Evangelischen Zentralinstitutes als Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen.)