Die „Sexwelle“

Die Sexwelle erreichte alle Bevölkerungsschichten, weshalb sich sexuelle Revolution und die Studentenbewegung nicht einfach gleichsetzen lassen, wie es gern in einer Kurzformel getan wird. 1971 hatte jede dritte Jugendliche im Alter von 16 oder 17 Jahren Geschlechtsverkehr; im Alter von 20 Jahren galt das für mehr als zwei Drittel der Frauen und drei Viertel der Männer (Herzog, 2005, S. 181).

Angesichts der Verzerrung der normativen Vorstellungen in den 50ern kam es in den 60er und 70er Jahren zu einer Hinwendung zum Empirismus, um herauszufinden, wie sich die Menschen tatsächlich verhielten. Obwohl selbst Vorreiter eines Sexradikalismus begegnete die Studentenbewegung der neuen Sexwelle mit Unbehagen. So formulierten Dannecker und Reiche, die Oswalt Kolle 1974 direkt angriffen: „Mit Sexualtechniken, wie sie die Aufklärungsindustrie anbietet, ist lustvolles Sexualleben so wenig zu erzeugen wie durch die von ihr jeweils propagierte und schnell wechselnde Linie des sexuell Statthaften und Unstatthaften“. Günther Amendt verspottete Kolle und Beate Uhse in seinem Sexualaufklärungsbuch „Sexfront“ (1970), seiner Antwort auf die christlichen Handbücher, ihre Empfehlungen seien lediglich gymnastische Übungen für verheiratete Paare und könnten unmöglich die verloren gegangene Lust wiederbeleben; die Ehe selbst sei eine „repressive Institution“ (nach Herzog 2005, S. 190). Alle Studentenaktivisten waren sich darin einig, dass eine befreite Sexualität ohne soziale Revolution nicht möglich sei (Reimut Reiche 1968 in „Sexualität und Klassenkampf“).

(Aus: Fernkorn, E., Haid-Loh, A., Hufendiek, S., Meyer, A., Merbach, M und Volger, I. (EZI Berlin), Bewahren und Verändern – 1964 bis 2025.Die Entwicklung der Fort- und Weiterbildung des Evangelischen Zentralinstitutes als Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen.)