Sitten und Moral

Ein Auseinanderklaffen der offiziellen Moral und der tatsächlich praktizierten Sitten war zu beobachten. Dies galt für die christlichen Werte im Allgemeinen wie für die Sexualmoral im Besonderen:
So ließen Schätzungen aus den frühen 60er Jahren vermuten, dass zwischen 80 und 90 Prozent der jungen Leute vor der Ehe Geschlechtsverkehr hatten. Da abgesehen von Kondomen empfängnisverhütende Mittel schwer zu bekommen waren, wurde bis zur Erfindung der Pille die Kalendermethode, d.h. der coitus interruptus propagiert. Neben „Aufpassen“ wurde trotz § 218 die Abtreibung als gängige Methode der Familienplanung eingesetzt („Abtreibungsseuche“) – meist von Hebammen, Kurpfuschern oder den schwangeren Frauen selbst vorgenommen. Allein im Jahr 1959 wurden 5400 Angeklagte wegen Durchführung einer Abtreibung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Anfang der 60er Jahre wurde in der allgemeinen Presse wie in medizinischen Zeitschriften wiederholt von jährlich 750 000 bis zu einer Million und mehr Abtreibungen ausgegangen. In den 50er Jahren starben pro Jahr im Schnitt 10 000 Frauen an den Folgen einer Abtreibung (Herzog 2005, S. 157). Erst die Erfindung der Pille setzte dieser Entwicklung ein Ende.

Mitte der 60er Jahre erreichte schließlich Westdeutschland die sexuelle Revolution, die bis Anfang der 70er Jahre dem Sexualkonservativismus den Boden entzog. Neben der massenweisen Verbreitung verlässlicher Verhütungsmittel durch die Pille (1961) ging die Sexwelle einher mit einer tiefgreifenden Liberalisierung bzgl. Nacktheit, vor- und außerehelichem Sex. Beate Uhse eröffnete die ersten Sexshops (1965).
Der erste Koitus fand immer früher statt, so dass Der Spiegel 1971 die Erkenntnisse der Sexologen so resümierte: „In den vergangenen vier bis sechs Jahren hat sich das Sexualverhalten der deutschen Jugend so verändert wie nie zuvor in diesem Jahrhundert“ (Der Spiegel vom 22. März 1971 „Jugend forscht“ (S. 175).

(Aus: Fernkorn, E., Haid-Loh, A., Hufendiek, S., Meyer, A., Merbach, M und Volger, I. (EZI Berlin), Bewahren und Verändern – 1964 bis 2025.Die Entwicklung der Fort- und Weiterbildung des Evangelischen Zentralinstitutes als Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen.)